Marokko ist nach Tunesien das zweite Land, das in Reaktion auf den „arabischen Frühling“ vorgezogene Parlamentswahlen abhält. Und wie in Tunesien, scheinen auch südlich von Gibraltar die gemäßigten Islamisten das Rennen zu machen. Die entscheidende Frage wird aber sein, ob das neue Parlament und die von ihm zu bildende Regierung tatsächlich in der Lage sein werden, die ihnen von der neuen Verfassung garantierten erweiterten Kompetenzen auch in der Praxis gegen das Königshaus zu behaupten. Sollte es nicht der Fall, droht eine Neuauflage der Massenproteste.
Denn Teile der marokkanischen Bevölkerung sind skeptisch, ob es sich bei den durchgeführten Verfassungsreformen wirklich um mehr handelt als nur um ein demokratisches Feigenblatt, mit dem Überleben des als korrupt geltenden Systems gesichert werden kann. Der absehbare Sieg der gemäßigten Islamisten bietet insofern eine Chance, da sie bisher an der Macht nicht partizipiert haben und deswegen einen größeren Vertrauensbonus erhalten könnten. Wohl aus diesem Grund zeigt das Königshaus bei dieser um zehn Monate auf den kommenden Freitag vorgezogenen Parlamentswahl keine Anstalten, die moderat-islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung wie bei früheren Wahlen zu diskreditieren und zu behindern. Gleichzeitig rufen Aktivisten der Demokratiebewegung zum Boykott der Wahl auf, weil sie weiterreichende Reformen fordern. Ein wichtiger Indikator für die Akzeptanz des vom König Mohammed VI. eingeschlagenen Weges wird deswegen auch die Höhe der Wahlbeteiligung sein, die vor vier Jahren auf das Rekordtief von 37 Prozent abgesackt war.
(November 2011)